Titelbild_Jahresspiegel2019KatholischStadtZuerich
Titelbild_Jahresspiegel2019KatholischStadtZuerich

Karla Rojas

«Ich wanderte als Schweizerin in die Schweiz ein.»

In Bolivien wartete ein privilegiertes Leben auf Karla Rojas. Doch die Familiengeschichte verschlug sie in die Schweiz, wo sie neu anfangen und auf vieles verzichten musste. In der Pfarrei Heilig Geist (Zürich-Höngg) kocht sie an Feiern für bis zu 150 Personen. Wenn sie selbst hungrig ist, dann darauf, sich weiterzuentwickeln.

An den Tag kann ich mich noch gut erinnern. Mein Vater sagte zu uns: «Wir gehen in die Schweiz!» Wunderbar, dachte ich nichtsahnend und meinte, er rede von anstehenden Ferien. Doch dem war nicht so. Wir zogen in die Schweiz, um dort zu leben. Wir liessen viele Privilegien zurück. In Bolivien arbeitete mein Vater als Regierungsbeamter, wir hatten ein grosses Haus und Angestellte. Ja, es war ein sehr angenehmes Leben.

Abgesehen vom äusseren Rahmen war mein Leben drauf und dran, selbständige Formen anzunehmen: Ich steckte seit zwei Jahren im Jusstudium an der Universidad Mayor de San Andrès in La Paz, ich freute mich auf eine Karriere als Anwältin. «Kein Problem, schauen wir weiter in der Schweiz, das kommt schon», meinte mein Vater beruhigend. Dem war aber nicht so. Ich fing also von null an. Wie alle Mitglieder der Familie.

Warum wir alles aufgaben? Ich muss dazu etwas ausholen: Meine Mutter stammt aus einer Auswandererfamilie aus dem Berner Oberland. Familie Bohren. Obwohl sie bereits mit vier Jahren nach Bolivien kam, fühlte sie sich immer als Fremde in der neuen Heimat. Sie blieb unglücklich, obwohl äusserlich alles stimmte. Irgendwann war das Heimweh zu gross, die Sehnsucht zu stark nach den Wurzeln. Mein Vater wollte sie heimbringen.

Der Wechsel war für uns alle heftig. In der Schweiz wohnten wir in einer Vierzimmerwohnung. Wir waren nicht arm, aber es war ein völlig neues Leben. Im ersten Jahr spürte ich so etwas wie eine aufkommende Panik in mir: alles zu klein, zu eng. Ich dachte: Ich halte das nicht aus. Nur allmählich gewöhnte ich mich an das neue Umfeld. Das hat wohl auch mit meiner Flexibilität zu tun. Schliesslich bringt es nichts, aufzugeben und zu jammern. Ich mache einfach das Beste daraus – das ist im Moment dann nicht immer das grosse Glück, aber es geht weiter.

Was mich am meisten irritierte, war das Fremdsein in meinem Heimatland. Dazu muss ich erklären, dass ich nur einen Schweizer Pass habe. Ja, ich habe keinen bolivianischen Pass! Zwar gibt es eine bolivianische Geburtsurkunde, aber einen bolivianischen Pass wollte mein Vater nicht ausstellen lassen. Das sei nicht nötig. So wanderte ich als Schweizerin in die Schweiz ein. Da mein Studium hier keine Anerkennung fand, musste ich ohne Ausbildung mein Berufsleben starten. Ich ging also kellnern, babysitten, putzen. Es war anstrengend. Mir war aber wichtig, jede Tätigkeit gut zu machen. Doch manchmal sah ich mich beim Putzen im Spiegel an und dachte: Das allein kann es nicht sein. Auf jeden Fall nicht für immer. Nur: Was sollte ich jetzt im Moment machen?

In erster Linie fühlte ich mich hilflos. Von aussen kam keinerlei Hilfe, die mich aus der Sackgasse befreit hätte. Ich selbst fand den nächsten beruflichen Schritt nicht. Die Feuerwehr hat mich dann gerettet (lacht). Nein, im Ernst: Ich hatte mich bei der freiwilligen Feuerwehr gemeldet und war dort aktiv. Da war ich akzeptiert und vollwertiges Mitglied eines Teams. Als ich einen Wohnungsvertrag unterschrieb, kam dies zur Sprache. Bruno Zimmermann arbeitete für die Liegenschaftsfirma und war auch in der Pfarrei Heilig Geist tätig. Meine Geschichte beeindruckte ihn, und so fragte er mich, ob ich nicht im Hausdienst der Pfarrei als Allrounderin aushelfen könnte. Ich zögerte keinen Augenblick. Bruno Zimmermann bin ich für diese Chance ewig dankbar. Er war einer der Ersten, der in der Schweiz an mich glaubte und mir weiterhalf. Unterdessen habe ich in der Pfarrei die Rolle der Allrounderin, die an allen Ecken und Enden einspringen kann. Tja, und weil ich auch schon in Küchen gejobbt hatte, fing ich irgendwann auch in der Pfarrei Heilig Geist an zu kochen.

Aktuell läuft erneut eine Abklärung, wie meine schulische Ausbildung in Bolivien hier in der Schweiz angerechnet werden könnte. Wenn meine Schulzeit wie eine Matura angerechnet wird, wäre es mir möglich, an der Universität zu studieren. Noch ist alles offen, und so mache ich unterdessen das Beste aus der Situation, wie immer.

Was mir wichtig ist: Ich mache niemandem einen Vorwurf, dass sich meine beruflichen Wünsche aus Bolivien in der Schweiz nicht erfüllt haben. Oder besser: noch nicht. Ich fühle mich als Schweizerin und schätze die Ordnung und die Struktur, die hier herrschen. Jedes Mal, wenn wir nach Bolivien reisen, denke ich: Ah, Heimat! So riecht und klingt Bolivien! … und dann nach zwei Wochen spüre ich den drängenden Wunsch: so, jetzt aber wieder zurück in die Schweiz! (schmunzelt).

Meinen Mann lernte ich in der Schweiz kennen – einen Kolumbianer. «So weit von Bolivien wegzureisen, um einen Kolumbianer zu heiraten», hat mein Vater gewitzelt. Das hat schon was. Heute sind wir zu fünft, meine drei Kinder sind 6, 12 und 15 Jahre alt. Auch sie fühlen sich hier daheim. Sie sehen sich auch nicht als Secondos, sondern als Schweizer.

Schwierig waren für mich die widersprüchlichen Gefühle. Ich fühlte mich in der Schweiz endlich zu Hause. In einem Land, das meine Werte wie Pünktlichkeit, Korrektheit, Ehrlichkeit grossschreibt. Ich musste jedoch immer wieder spüren, dass mich die Menschen wegen des Akzents und der Hautfarbe als anders betrachteten. Nicht wie sie und darum fremd. Fairerweise muss man sagen, dass die Schweiz vor 20 Jahren noch eine andere war. Weniger international, mit weniger Bevölkerungsgruppen als heute.

Ich bin katholisch. Aber nicht verbohrt, ich habe auch schon Freikirchen besucht und war eine Zeit lang bei den Zeugen Jehovas, weil es mich neugierig machte. Es war aber nicht mein Weg. Das ist für mich kein Widerspruch. Ich bin überzeugt, dass man Gott an vielen Orten finden kann. In einer reformierten Kirche genauso wie in einer Moschee. Der Glaube an Gott ist für mich an keine fixe Religion gebunden. Wo Menschen zusammen sind und sich gegenseitig helfen, dort ist Gott präsent. Und Gott hilft, wenn es schwierig wird und man nicht mehr weiterweiss. Es kommt immer für alles die richtige Zeit.

Ja, was wäre aus mir geworden, wenn wir nicht in die Schweiz gezogen wären? Ich hätte wohl einen anderen Mann geheiratet, lebte in einem grossen Haus mit Personal und wäre im Beruf als Anwältin erfolgreich. Vielleicht … aber weiss man das alles? Eines weiss ich jedoch: Ohne die Erfahrungen in der Schweiz wäre ich nicht die Karla von heute. Ich möchte aber nicht jemand anderes sein. Jeder Mensch hat etwas Einzigartiges. Das ist nicht seine Tätigkeit oder seine Herkunft, sondern sein Wesen. Alle haben einen eigenen Weg, der für sie bestimmt und der richtige ist. Auch meiner wird noch weitergehen. Meinen Optimismus verliere ich nie.

«Es bringt nichts, aufzugeben und zu jammern.»

Die Fakten  – Wissenswertes auf einen Blick

Zurück