Titelbild_Jahresspiegel2019KatholischStadtZuerich
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Fredi Böni

«Wir dachten: Jetzt fängt Kirche neu an!»

Andere möchten Polizist oder Feuerwehrmann werden. Alfred «Fredi» Böni, Pfarrer in St. Gallus (Zürich-Schwamendingen), wusste früh: Ich möchte Priester werden. Von Näfels führte ihn sein Lebensweg über Stans nach Chur und weiter nach München – und irgendwann in die Stadt Zürich. Doch auch mit 75 Jahren denkt er: Ein Aufbruch tut not.

Es lag etwas Unerhörtes in der Luft! Nicht ein laues Lüftchen, nein, eine Revolution. Und das in Näfels! Unser Pfarrer Jakob Stäger war aufgewühlt: «Jetzt fängt die Kirche neu an!», meinte er zu uns Ministranten, und wir glaubten ihm. Das 2. Vatikanische Konzil mit dem «Aggiornamento» stand an. Papst Johannes XXIII. hatte eingeladen, über die Erneuerung der Kirche zu diskutieren.

Mich begeisterten zu jener Zeit seine spirituellen und pastoralen Impulse. Das war eine Erschütterung, die mich im Innersten berührte, nicht im Kopf, nein, im Herzen. Plötzlich stand es klar vor meinem geistigen Auge: Ich will Priester werden – und zwar im Sinn des Vaticanum II. Ich war damals 15 Jahre alt.

Mein Weg führte mich ans Kollegium in Stans, nach der A-Matura im Herbst 1967 dann ins Priesterseminar St. Luzi nach Chur. Im überdurchschnittlich grossen Kurs von 18 Priesteramtskandidaten war auch der ehemalige Generalvikar Josef Annen. Wir waren Konzilskinder, beseelt, diese neue Kirche nun aufzubauen, zu leben. «Jetzt geht es los!», das war unser beflügelndes Gefühl.

Ich war also auf den klassisch vorgezeichneten kirchlichen Weg eingespurt. Mit absehbaren Stationen: direkter Abschluss des Studiums in Chur, dann ohne Umweg in eine Pfarrei und erste Sporen abverdienen.

Dann der Kurswechsel – es ging aus dem beschaulichen Chur ins pulsierende München, mitten ins pralle Studentenleben. Ich genoss nebst dem spannenden, vielseitigen Studium auch den Ausgang, das Studentenleben in allen Facetten. Erlebte viele Kontakte und Freundschaften. Auch mit Studentinnen. Vieles stand nun im Raum, neue Aspekte des Lebens galt es für mich zu klären: Doch nicht Priester werden, eher Pastoralassistent, wie es das 2. Vatikanische Konzil als Neuerung jetzt vorsah? Die Frage nach einer Familie, sie wurde konkret.

Die Münchner Zeit weitete meinen Blick – und bestärkte mich am Schluss dank der erlebten Erfahrungen in meinem früheren Entschluss, Priester zu werden. Ich durfte (!) Priester werden, ohne familiären Druck. Das war die beglückende Erkenntnis. Zurück in Chur – es war gerade die Zeit der äusserst spannenden Synode 72 – schloss ich das Studium ab und wurde 1973 zum Priester geweiht.

Bischof Vonderach schickte mich als Vikar nach St. Laurentius Wülflingen. Mein Lehrmeister und Mentor Pfr. Albert Mantel war streng und genau. So war auch das Pfarreileben geprägt, es gab einzuhaltende Vorgaben. Das war nicht ganz mein Traum, es vermittelte mir aber doch eine Grundhaltung für später: Sei Seelsorger mit Zuverlässigkeit und Seriosität. Keine halben Sachen.

Sieben Jahre später wurde ich zum Pfarrer der Arbeiter- und Ausländerpfarrei St. Josef in Töss gewählt. 20 Jahre lang war ich dort und fühlte mich sehr wohl. Trotzdem spürte ich 2000, dass ich noch einmal wechseln wollte. Schwamendingen und St. Gallus war ein Neuanfang. Was nun stärker spürbar wurde: der sich öffnende Graben zwischen den Menschen und der Kirche. Doch weil die langjährige Mitarbeiterin Frieda Mathis vor acht Jahren neu als Pfarreikoordinatorin eingesetzt wurde, begann für mich eine wunderbare Konstellation.

Mehr denn je bin ich nun vor allem Seelsorger, ohne Management- und Personalführungsaufgaben. Das gibt mir mehr Zeit für die Menschen. Eine Zeit, die die Menschen von mir immer mehr erwarten und schätzen. Für sie da sein und aufmerksam zuhören, wenn die Umstände schwierig und anspruchsvoll werden. Als Seelsorger geht es nicht um kluge Worte, weitschweifige Erklärungen. Es sind Ermutigungen, die helfen, seelisch aufgerichtet wieder weiterzugehen. Als Seelsorger möchte ich auch ausdrücken: Ich bleibe mit Dir auf dem Weg, zusammen mit Gott.

Die Themen sind beständig. In der aktiven Lebensphase sind es Fragen nach Beziehungen, Beruf, Ehe. Je älter man wird, desto mehr rückt die Sinnfrage in den Mittelpunkt. Konflikte mit der jüngeren Generation treten auf, oft auch im Zusammenhang mit Erbstreitigkeiten. Herausfordernd sind die Fragen: «Warum ist Gott so ungerecht?» oder «Wie finde ich mich mit meinen körperlichen oder geistig-seelischen Krankheiten zurecht?»

Im Gespräch ist mir eine vertrauensvolle Beziehung zu den Menschen wichtig. Ansatzpunkt ist für mich oft die Frage von Jesus an den Blinden: «Was willst du, dass ich dir tue?» Gott ist für mich kein vorschreibender, tadelnder Gott. Wenn jemandem aber als Kind mit einem rächenden, strafenden Gott gedroht wurde, geht diese Saat später oft unheilvoll auf. Die Angst vor ständigem Versagen bleibt grösser als die Hoffnung, etwas gut zu machen und einen barmherzigen Gott zu erfahren.

Eines ist mir wichtig: Es gibt vor Gott keine «bereinigte» Bilanz, die man erreichen kann. Schlicht und einfach, weil wir nicht perfekt sind. Aber Gott macht keinen Kassensturz der Verfehlungen, höchstens wir selbst. Gott will für uns da sein, wenn wir stolpern und fallen.

Im katholischen Glauben haben wir mit den Sakramenten eine einzigartige «spirituelle Hausapotheke», wie z.B. die Kommunion als «Brot des Lebens» oder das Versöhnungssakrament als Grundheilung. Ein Kreuzzeichen mit Weihwasser, ein Gebet vor dem Tabernakel: «Nimm von mir, was ich an mir nicht verkraften kann» können wie Erste-Hilfe-Pflästerli wirken.

Es gibt Momente, wo auch ich den Zuspruch im Gebet suche. Bei Schicksalen, bei denen ich selbst keine Antwort finde, wo ich nicht trösten kann, wie ich möchte. Das setzt mir heute viel mehr zu als früher. Ich bin kein Übermensch als Priester.

Die Kirche der Zukunft sehe ich als eine lebendige Gemeinschaft, nicht als blosse Organisation. Wir reden heute praktisch über alles, ohne Hemmungen – aber beim Glauben verstummen wir. Aus Scham. «Vernünftige Menschen glauben nicht», dieser Vorwurf scheint über unserem Glaubensleben zu hängen wie ein Fluch. Damit ersticken wir uns. Wir müssen den Glauben aus dem intimen, privaten Lebensbereich herausholen und ihn mit Überzeugung und Zivilcourage in die Arbeits- und Freizeitwelt hineinbringen.

Gerade der Glaube ist es ja, der uns in allen Widerwärtigkeiten stets Anlass gibt, optimistisch zu sein. Wenn es auch abgedroschen klingt: «Werdet wie die Kinder» – darin steckt doch viel Kraft und Mut, viel Vertrauen und Neugier. Wir dürfen raus ins Leben. Wir dürfen fallen, stolpern. Gott wird uns immer wieder zur Seite stehen und uns auffangen, so wie wir es in der Person von Jesus gelernt haben. Diesen Mut und diese Bejahung dürfen wir nicht verlieren und auch nicht nur für uns behalten, sondern an andere Menschen weitergeben. Das ist Kirche.

«Ich bin kein Übermensch als Priester.»

Die Fakten  – Wissenswertes auf einen Blick

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