Titelbild_Jahresspiegel2019KatholischStadtZuerich
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Thomas Münch

«Lieber das System verbessern statt aussteigen.»

Er machte ein Vordiplom in Mathematik, liess sich bei Friedensdemonstrationen ans Tor eines Militärstützpunktes ketten, wollte als Priester nach Guatemala gehen – und ist heute Mitglied der Dekanatsleitung und Seelsorger an der Predigerkirche: das facettenreiche Leben von Thomas Münch.

Viele staunen, wenn ich von meinem Vordiplom in Mathematik erzähle. Die ursprüngliche Absicht dahinter war aber ganz lapidar: Ich wollte ursprünglich Bankkaufmann werden. Die Theologie habe ich erst während der Wirtschaftsmatur entdeckt. Übrigens wurde uns bei der schriftlichen Matur 1980 in Religion ein Text von Hans Küng zur Interpretation vorgelegt. Ein Zeichen? Theologie und Mathematik, das war für mich kein Gegensatz. Im Gegenteil: Beide Systeme bewegen sich innerhalb ihres Denkens logisch. Das faszinierte mich.

In meinem Heimatdorf Gemmingen in Baden-Württemberg war ich zuerst Ministrant und habe später als Oberministrant die ersten weiblichen Ministranten bei uns eingeführt. In der Familie war es die Regel, sonntags um 8 Uhr aufzustehen, damit man um 9 Uhr in der Kirche sein konnte. Wenn man als junger Mensch am Vorabend erst um 3 Uhr nachts heimkam, war das bisweilen nicht ohne … Kirche war für uns allerdings mehr als «nur» der Besuch eines Gottesdienstes. Sie war der soziale Treffpunkt schlechthin. Nach der Messe traf ich hier alle meine Kolleginnen und Kollegen, Cousins und Cousinen.

Vier Semester Mathematik hatte ich in Tübingen bereits studiert und schloss mit dem Vordiplom ab. Theologie hatte ich zuvor schon fürs höhere Lehramt belegt. Aber dann kam die Schwerpunktverlagerung aufs Theologiestudium.

Ich erlebte in Tübingen die Auseinandersetzung um den streitbaren Schweizer Theologen Hans Küng, die zu seiner Entlassung als Professor für Dogmatik führte und zur gleichzeitigen Gründung des ökumenischen Instituts. Es war die Zeit, als neue Ideen und Gedanken die katholische Kirche bewegten. Mich ebenso. Besonders die Befreiungstheologie weckte in mir den politischen Menschen, der ich schon zu Jugendzeiten war. Die Befreiungstheologie hatte ihre Wurzeln in Lateinamerika und sah sich als Stimme der Unterdrückten. Meine Vorstellung war, als Priester in Guatemala die Indios in ihrem Kampf gegen die damalige Militärdiktatur zu unterstützen. Ich brauchte dazu aber ein Stipendium.

Politisiert wurde ich schon früh durch den Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Später in den 80er-Jahren waren die Umweltkrise, die Atomenergie, das Wettrüsten mit Pershing II, die Friedensbewegung, der Kalte Krieg Themen, die mich geprägt haben. Ein Bild ist mir geblieben: Wenn ich zu Hause aus meinem Kinderzimmer blickte, sah ich die Lichter einer US-Luftabwehrraketenstellung in unserer Nähe. Als junger Mensch engagierte ich mich in der Friedensbewegung, liess mich im gewaltlosen Widerstand an Gattertore ketten und war auch in der Gründerbewegung dabei, aus der in den 80er-Jahren die Grüne Partei geboren wurde.

Sich ins System einzubringen und es zu verändern, war und ist für mich die sinnvollere Alternative, als auszusteigen und zu resignieren. Diese Haltung bewegt mich bis heute.

Nun, aus dem Stipendium für Guatemala wurde nichts. Für die Weiterführung des Studiums erhielt ich dagegen ein Stipendium für Salamanca, Spanien. Mich traf die Absage für Guatemala schwer. Ich musste mir nun klar werden, wohin mein weiterer Weg führen sollte. Priester oder nicht? Pastoralassistent oder «Pastoralreferent», wie die neu geschaffene Funktion damals in Deutschland hiess?

Zwei Punkte waren für mich zentral: Als Pastoralassistent irgendwann nach Guatemala zu gehen, das war keine Option. Mit einer Familie oder einer Partnerschaft im Rücken gibt es bestimmte Rücksichtnahmen – zu gross war die Gefahr, dabei das Leben zu verlieren. Kirchliches Engagement in solch politischen Brennpunkten, das war nichts für naive Romantiker. Andererseits hatten Pastoralassistenten in Deutschland keine Möglichkeit, auf Pfarreiebene zu arbeiten, sondern nur in übergeordneten Seelsorgeräumen.

Drei Wochen wollte ich mir im Rahmen von geistlichen Exerzitien Zeit geben, um zu einem Entschluss zu kommen. Nach zehn Tagen hatte ich meinen Entschluss gefasst: Pastoralassistent. Jene Funktion also, die ich heute an der Predigerkirche ausübe.

Was aus der bewegten Zeit geblieben ist? Das beherzte Engagement. Wie damals geht es auch heute um die Kirche und die Menschen, die Unterstützung benötigen. Sich einsetzen geht strukturell und persönlich. Als Mitglied der Dekanatsleitung und Seelsorger vereine ich beides. In beiden Rollen erlebe ich aktuell eine Zeit des Umbruchs und der Veränderungen – nicht das erste Mal als Katholik.

Das gegenwärtig laufende Reformprojekt «Katholisch Stadt Zürich 2030» begleite ich in der steuernden Sonderkommission. Es liegen jene Themen und Fragen auf dem Tisch, die die Kirche drängender beeinflussen werden: weniger Mitglieder und damit weniger Ressourcen, fortschreitende Säkularisierung und Entkonfessionalisierung der Gesellschaft.

Hier brauchen wir Antworten. Ob es die richtigen sind, die wir entwickeln? Das wird auch der Geist Gottes entscheiden. Nein, ich nehme uns nicht aus der Verantwortung, aber wir Glaubenden müssen im Geist Gottes gemeinsam unterwegs sein, dann kommen wir ans Ziel.

Ob die Menschen die Kirche noch brauchen, ist eine zu pauschale Frage. Als Seelsorger an der Predigerkirche stütze ich mich immer wieder auf Markus 10, die Stelle, an der Jesus auf den blinden Bartimäus trifft. Jesus fragt: «Was willst du, dass ich dir tue?» Das ist für mich entscheidend: Nicht ich weiss, was mein Gegenüber braucht. Der Mensch als Suchender muss sich selbst klar werden, was ihn bewegt. Dabei möchte ich ihn begleiten.

Die Frage ist daher eher: «Was sucht der Mensch in der Kirche?» Um diese Frage zu klären, würde ich eine geistliche Begleitung empfehlen. Dann kann die fragende Person auch den nächsten Schritt gehen, der ihr entspricht. Vielleicht führt dieser in eine passende Pfarrei, vielleicht aber auch nicht.

Studien zeigen, dass Menschen zwar weiterhin spirituell unterwegs sind, diese Spiritualität aber nicht zwangsläufig in institutionellem Rahmen – wie eben in der klassischen Pfarrei – stattfinden muss. Wir tun gut daran, auch Menschen auf einer anderen Ebene zu erreichen. Dafür braucht es Menschen in der Kirche, die neuartig denken.

Ja, es gibt in der Kirche unterschiedliche Bewegungen, solche mit dem Blick zurück und solche mit dem Blick in die Zukunft. Das ist verständlich. Jede Bewegung erfährt immer eine Gegenbewegung, was auch in der Kirche mehrmals der Fall war, wie deren Geschichte zeigt. Wer die Kirchengeschichte jedoch aufmerksam studiert, sieht die vielen neuen Entwicklungen. Die Kirche bewegt sich doch.

Die heutige Kirche ist in keiner Form mehr zu vergleichen mit der katholischen Kirche vor 100 Jahren. Ich denke, dass wir uns trotz aller Krisen in Richtung einer Kirche bewegen, die im Geiste Jesu wirkt. Bleiben wir unterwegs.

«Was sucht der Mensch persönlich in der Kirche?»

Die Fakten  – Wissenswertes auf einen Blick

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